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"Freiheit ist immer auch die Freiheit zum Verzicht."

Verfasst von Kay Bartelt   //  

Dr. Reinhard K. Sprenger, 60, schloss sein Studium mit Promotion im Fach Philosophie ab. Für seine Doktorarbeit „Nationale Identität und Modernisierung“ erhielt er den Carl- Diem-Preis. Er arbeitete als Wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen und stieg anschließend zum Leiter Personalentwicklung und Training bei der 3M in Deutschland auf. Seit seinem Erfolg als Buchautor Anfang der 1990er ist er freier Management-Berater, gefragter Vortragsredner und Seminartrainer. Im Zentrum seiner Theorie stehen Themen wie Selbstmotivation und die Verantwortung des Einzelnen.

Sie schreiben: Mitarbeitermotivation ist keine Führungsaufgabe - wenn Menschen ihrem Herz folgen, sind sie immer motiviert. Das würde bedeuten, dass sie mehr auf sich selbst hören als auf andere. Selbstwahrnehmung ist aber kein Bestandteil vieler Ausbildungsgänge. Ist das ein Versäumnis?

Viele Ausbildungsgänge scheinen mir jetzt schon überfrachtet. Manches kann man doch auch an die Selbstverantwortung der Menschen delegieren. Aber sicherlich sind Achtsamkeit und Selbst-Aufmerksamkeit hilfreich für ein gelingendes Leben. Denn über Motivation wird ja nur gesprochen, wenn der Sinn verloren geht. Wenn Menschen Ja sagen, aber Nein meinen. Wenn sie sich als fremdbestimmt erleben. Wenn sie Arbeit nicht mehr als Selbstentwicklung, als Entfaltung, als Wachstum erleben. Wenn sie etwas tun, was ihnen nicht entspricht. In diesem Sinne der inneren Stimme zu lauschen ist nicht dumm.

Einer Ihrer Lehrsätze ist: Das beste Erfolgsrezept für ein Unternehmen ist es, keins zu haben. Der Blick auf langfristig erfolgreiche Unternehmen zeigt aber, dass solche fähig waren ein Erfolgskonzept durch ein anderes abzulösen. Können Unternehmen ohne ein Konzept also ohne Orientierung erfolgreich sein?

rs 02„One size fits all funktioniert für Baseballkappen, aber nicht für Menschen“Das ist keine Frage des Alles-oder-Nichts, sondern des Mehr-oder-Weniger und des Heute-so-und- morgen-anders. Wir haben ja nur noch selten ruhige Abschöpfungs-Märkte. Wir tun uns in der Kunst der Zukunftsprognose von Tag zu Tag schwerer.

Alles drängt, alles muss schnell gehen. Die Innovations-Notwendigkeit explodiert und die Bindungs-Notwendigkeit schrumpft. Deshalb können Unternehmen heute nur ganz selten den Märkten die Taktung vorgeben – und dann auch nur für kurze Zeit.

Heute muss, wer erfolgreich sein will, hochflexibel sein und schnell reagieren können. Man muss einfach sich bewusst sein: Erfolg macht lernbehindert. Und was gestern funktionierte wird morgen wahrscheinlich nicht mehr funktionieren. Deshalb muss Führung das Unternehmen permanent mit Störung versorgen – in homöopathischen Dosen und in optimistischer Absicht. Dann kann man bruchhafte Großkorrekturen vermeiden.

Frei nach Keynes sehen Sie kein Problem mit dem Neuen im Alten, aber mit dem Alten im Neuen. Dabei bringt das eine Dynamik und das andere Stabilität. Wo verlaufen die Konfliktlinien in diesem Spannungsfeld?

Diese Konfliktlinien werden letztlich vom Kunden verschoben. Wenn Sie verkaufen, was Sie herstellen können, werden Sie irgendwann scheitern. Wenn Sie herstellen, was Sie verkaufen können, sind Sie nahe beim Kunden. Dann setzten Sie das Unternehmen unter Horizontalspannung, nicht unter bürokratielastige Vertikalspannung. Dann bleiben Sie nervös, bauen lieber Zelte als Paläste, planen mittlerer Reichweite und organisieren sich um Kundenprobleme herum.

Ausgeprägte Dezentralität hat hier Vorteile. Sonst entwickeln Sie sich von einem Unternehmen, das für Kundenprobleme Lösungen sucht, zu einem Unternehmen, das für seine Lösungen Kundenprobleme sucht. Dann leiden Sie bald unter hochprofitablem Siechtum, das Kostenmanagement ist großartig, aber Sie können den Laden bald zumachen. Dann haben Sie die Kosten auf Null.

Wie man Ihre Personalpolitik-Analyse: „One size fits all funktioniert für Baseballkappen, nicht für Menschen“ richtig deutet, dann müssten sich Manager weniger mit BWL als mehr mit Sozialpsychologie beschäftigen. Worin sehen Sie das Fehlen von Menschenkenntnis bei Managern begründet?

Menschenkenntnis ist ein schwieriger Terminus. Aber Interesse für Menschen und das Anerkennen ihre Unterschiedlichkeit ist zu fordern. Es kann ja nicht nur darum gehen, Maschinen sachgerecht zu behandeln und Tiere artgerecht. Sondern auch Menschen menschengerecht. Dann geht es nicht nur darum, Menschen für Jobs zu finden, sondern auch Jobs für Menschen zu flexibilisieren.

Wenn ich Menschen lediglich als Kollektivsingular „Personal“ anschaue, sie als Produktivfaktor instrumentalisiere, an die Unternehmensmaschine anflansche und als vielfach determinierte Reiz- Reaktions-Wesen manipuliere, werden sie sich mental verabschieden, aber physisch anwesend bleiben. Dann steigt der Zynismuspegel. Und Zynismus ist eine noch unentdeckte Wachstumsbremse im Unternehmen!

Dabei ist die Asymmetrie für jeden erkennbar: Wir betrachten uns selbst als vertrauensfähig, individuell und selbstbestimmt, aber bei den anderen haben wir Zweifel. Aus dieser Schieflage resultieren viele Kränkungen und damit Produktivitätseinbußen.

Ihre Managementratschläge lesen sich zuweilen wie Anleitungen zu einer Ayurveda-Kur: Es ist von Loslassen, Rückzug und Reinigung die Rede. Warum überhitzen die Menschen, die sich als Motoren der Leistungsgesellschaft verstehen, und bescheren sich damit Burnout oder ähnliche Krankheiten?

rs 03„Die wahre Ökonomie ist die knappe, auf das Wesentliche konzentrierte.“Darauf gibt es mehrere Antworten. Blaise Pascal würde sagen: Weil Menschen nicht mal zwei Stunden ruhig im Zimmer sitzen können. Eine andere ist: Weil sie das Wesen der Ökonomie nicht verstanden haben. Denn das ist doch die wahre Ökonomie: die oikonomia, die Haushaltsführung, die knappe, auf das Wesentliche konzentrierte. Eine Ökonomie der Zurückhaltung, die ihren Wesenskern nach eher ein Lassen als ein Machen ist. Wer Mittel ökonomisch einsetzt, setzt sie sparsam ein; wer mit den Kräften haushalten will, teilt sie ein. Ökonomie ist die Suche nach dem geringstmöglichen Aufwand.

Eine weitere Antwort ist: Weil Lassen als Mangel erlebt wird, nicht als eine Bedingung der Möglichkeit, Neues in die Welt zu bringen und Spielräume für Unverfügbares zu eröffnen. Und letztlich:Weil sie soziale Bedeutungslosigkeit fürchten. Und, wie oben schon gesagt, weil sie ihre Endlichkeit vergessen haben.Weil sie glauben, sie hätten noch ein zweites Leben im Rucksack.

Sie diagnostizieren bei vielen Menschen einen Mangel an biografischer Entschiedenheit und sehen dies als „Krankheit der Moderne“. Unsere Ahnen haben jahrhundertelang dafür gekämpft die Wahl zu haben. Jetzt haben die Menschen alle Möglichkeiten und können sich nicht entscheiden.Was läuft schief?

Gar nichts läuft da schief. Aber wir haben noch nicht gelernt, mit dem Freiheitsparadox umzugehen. Das eigentliche Problem dabei ist die Überfülle der Möglichkeiten. Wenn wir morgens z.B. nur eine Marmelade auf dem Frühstückstisch haben, erscheint uns das unzureichend und wir wünschen uns die Wahl zwischen mehreren. Haben wir dann, sagen wir: drei Marmeladen auf dem Tisch, geht es uns gut. Wir freuen uns über die Auswahl und die Abwechslung.

Haben wir aber 30 Marmeladen zur Wahl, dann geht es uns wieder schlecht. Wir „leiden“ gleichsam unter der Tatsache, dass wir so viele Marmeladen nicht probieren, so viele Möglichkeiten nicht nutzen können. Aus Furcht, scheinbar bessere Möglichkeiten zu versäumen, verpassen wir unser eigentliches Leben.

Darum geht es, zu begreifen: Freiheit ist die Freiheit zum Verzicht. Bewusst sich zu entscheiden, etwas nicht zu tun, Möglichkeiten ungenutzt zu lassen. Entschieden zu sein für das, was jetzt ist. Die Freiheit des Menschen besteht ja weniger darin, zu tun, was er will, sondern vielmehr zu lassen, was er nicht will.

Viele Schriftsteller berichten von einem Gefühl der Leere nach Beendigung eines Buches. Das Gefühl wird mit der Wochenbettdepression von jungen Müttern verglichen. Wie geht es Ihnen nach Fertigstellung eines neuen Werkes?

rs 04„Nach dem Buch ist vor dem Buch“Ich führe kein zielorientiertes Leben und leide daher auch nicht unter einem Zielerreichungsblues. Wenn im Fußball gilt „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, so gilt für mich „Nach dem Buch ist vor dem Buch“. Meistens komme ich während des Schreibens schon auf ein neues Thema. Es ist ja der Blitz, der alles steuert, wie Heraklit sagte. Und irgendwann mal wird mich der Blitz dabei dann wirklich treffen und dann werden andere weiterschreiben. Nur bei meiner Musik ist das anders: Da möchte ich den Song nie fertigstellen, sondern immer weiterspielen.

Für sich persönlich haben Sie festgelegt, dass Zeit-Reichtum der einzig wahre Reichtum ist. Wie kamen Sie zu dieser Einsicht? Erfolgte daraus resultierend der Schritt in die Selbständigkeit?

Ja, das war der Hauptgrund, mich selbständig zu machen. Ich konnte als Manager mich niemals unterbrechungsfrei auf eine Sache konzentrieren. Daher hatte ich immer das Gefühl, halbe Sachen zu machen und die Probleme letztlich zu erzeugen, für deren Lösung ich mich hielt.

Damals 1990 war es natürlich auch der Kontrast zwischen dem Geldreichtum von Deutschland-West und dem Zeitreichtum von Deutschland-Ost. Ein gleichzeitiges Ja und Nein, das sich dem materiellen Wohlstand ebenso wenig ausliefert wie verweigert und das empfänglich bleibt für das Unverfügbare: Das hat für mich nichts an Attraktivität eingebüßt.

Das Interview führten Michael Stratmann & Kay Bartelt
Fotos: Sabine Felber, Literaturtest © Campus Verlag